Vier Wochen auf See

3. Februar 2023 um 17:40 Uhr UTC, POS 17°54’N 154°43‘W

Wir fahren gerade an der großen Insel von Hawaii vorbei, unser Kurs verläuft rund 60 sm südlich davon. Ein wichtiges Etappenziel ist erreicht, aber noch liegen weit mehr als die Hälfte der Strecke vor uns.

Wir haben erfahren, dass auf Hawaii vor ein paar Tagen Meisterschaften im Wellenreiten veranstaltet wurden, weil nach Jahren endlich mal die Wellen hoch genug waren. Na vielen Dank – eigentlich wollten wir da doch gar nicht mitmachen. Obwohl wir in der Wettbewerbsklasse der zweimastigen Surfbretter sicher einen Sonderpreis als schwerster Teilnehmer bekommen hätten.

Mit unseren Tölpeln, die nach ein paar Tagen Abwesenheit wieder zurückkehrten (natürlich nicht dieselben), haben wir Freude und Ärger zugleich. Lustig war es, als gleich vier Vögel auf den Salingen (den Querstreben am Mast) Platz finden wollten, aber dort ebenso wie wir in der Koje keinen Halt fanden und sich immer wieder mit den Flügeln stabilisieren oder gar auffliegen mussten. Und wie die Sitzenden mit lautem Geschnatter die Landewilligen schon im Anflug vertrieben. Vor allem aber, wie sie bei heftigeren Schaukelbewegungen auf der Saling Schlitten fuhren, also seitlich hin und her rutschten. Abendunterhaltung vom Feinsten.

Eines Nachts fiel ein Tölpel bei einem Segelmanöver vor Schreck glatt von der Saling und purzelte benommen und vom Licht geblendet aufs Deck direkt neben mich. Er schaute mich kurz an und stürzte sich dann verzweifelt über die Reling ins Wasser, um seinem schlechten Traum zu entkommen.

Ärger haben wir mit den Tölpeln, weil sie auch die Solarpaneele als Ruheplätze entdeckt haben und diese mit ihrem Kot so zupflastern, dass sie nicht mehr laden. Vom Vogeldreck auf Achterdeck, Gasflasche, Angelrolle und Großsegel ganz zu schweigen. Zu unseren – anscheinend wirkungslosen – Abweiseleinen haben wir jetzt noch flatternde Fetzen von Plastiktüten über den Paneelen angebaut. Mal sehen ob die wirken und gleichzeitig nicht zu viel Schatten auf die Paneele werfen. Sowohl das Putzen als auch das Basteln an den Solarpaneelen ist unterwegs eine ziemliche Herausforderung, denn dazu muss ich (natürlich angeleint) auf dem schwankenden Großbaum stehend balancieren. Die Vögel loten also die Grenzen unserer Tierliebe aus. Anderseits ist das natürlich auch ein gutes Training für den nächsten Wettbewerb im Wellenreiten. Wenn mal wieder die Wellen hoch genug sind.

Drei Wochen auf See

27. Januar 2023 um 16:30 Uhr UTC, POS 18°19’N 141°17‘W

Passat. Definitiv sind wir jetzt dort, wo relativ beständige Ost- bis Nordostwinde wehen, die uns Tag für Tag Richtung Japan schieben. Üblicherweise stellt man sich das Passatsegeln mit 4-5 Windstärken, gemütlichem Schaukeln, weiß-blauem, fast schon bayerischen Himmel und spektakulären Sonnenuntergängen vor.

Wir haben zunächst die etwas unfreundlichere Wintervariante des Passats abbekommen. Statt Windstärke 4-5 gab es 6-7, mehr als stark gereffte Segel konnten wir nicht setzen. Statt gemütlichem Schaukeln schüttelten uns Wellen mit gut 3 Metern Höhe durch, statt Biergartenwetter gab es eine tiefliegend graue Wolkendecke mit Sprühregen und gelegentlichen Schauern, mit Vorliebe bei Segelmanövern oder wenn gerade ein Fisch an der Angel war. Leider waren die Schauer aber immer zu kurz, um unsere Süßwasservorräte aufzufüllen. Bis die Salzkruste vom Dach gespült war, die sich von der überkommenden See und der Gischt dort abgesetzt hatte, war der Schauer schon wieder vorbei. Schade, wir hätten gerne ein paar Liter extra für Handwäsche oder zum Bodenwischen gehabt.

Unsere Etmale diese Woche betrugen 130, 133, 126, 141, 126, 99 und 86 Seemeilen. Ihr seht also, was passiert ist: am Ende der Woche ließ der Wind nach, jetzt haben wir nur noch 3-4 Windstärken und tatsächlich auch mehr Sonnenstunden. Nur bleibt uns die Welle von vorher noch eine ganze Weile erhalten, und so schaukelt es immer noch recht wild. Unser Vorankommen messen wir nicht nur in Knoten, also Seemeilen pro Stunde (Bewegung durchs Wasser), sondern auch in BFMs, Blaue Flecken pro Meter (Bewegung durchs Schiff).

Bei dem nachlassenden Wind ist auch unser Leichtwindsegel wieder mehr gefragt. Leider hat sich unsere Befürchtung bewahrheitet und die Risse entlang der Lieken werden immer größer, so dass wir das Segel nach ein paar Stunden schon wieder bergen mussten und eine erneute Reparatur in Angriff nehmen werden. Gar nicht so einfach, so ein Riesensegel auf fast 25 Metern Lieklänge zu verstärken, und das mit einer kleinen Nähmaschine und ohne Platz, um das Segel ausbreiten zu können. Aber ohne Leichtwindsegel könnten wir für unsere Strecke locker eine Woche länger brauchen, also sind wir stark motiviert.

An der Gemüsefront hat sich nicht viel getan. Der letzte Salat hat uns verlassen, die letzten Avocados haben erst das Zeitliche, dann das Räumliche gesegnet (d.h. sie sind über Bord gegangen), und mit dem Kohl mussten wir ein ernstes Wörtchen reden und seine vergammelten Außenblätter den Fischen überlassen. Frisches Obst fürs Müsli ist jetzt auch vorbei, die letzte Ananas wird heute aufgegessen. Die Zitrusfrüchte sind noch immer gerne unterwegs, oft tummeln sich die Grapefruits bei den Zwiebeln, und eine haben wir sogar bei den Kartoffeln erwischt. Wir hoffen, sie stellen in der dunklen Ecke nichts Ungehöriges an, denn wir wüssten nicht, wie wir kleine Grapetoffeln zubereiten sollten.

Den malerischsten Ausflug hat aber die Pfeffermühle unternommen. Natürlich machte sie sich frisch gefüllt auf die Reise und kehrte leer zurück. Muktuk wird wohl noch für eine ganze Weile ein großes Kugellager bleiben.

Zwei Wochen auf See

20. Januar 2023 um 16 Uhr UTC, POS 18°19’N 126°59’W

Lange hat es gedauert, bis wir aus der Schwachwindzone herausgekommen sind. Erst am elften Tag haben wir einen Zipfel vom Wind erwischt, aber auch dann nur tagsüber, während in der Nacht wieder die Segel schlugen. Jetzt aber – seit zwei Tagen – sind wir im Passat. Gestern war unser Etmal dann endlich bei 117 sm, heute werden es über 120, wir kommen also voran. Allerdings herrscht hier gerade eine unregelmäßige und unangenehme Kreuzsee von drei Metern Höhe, so dass wir nachts in der Koje hin und her geworfen werden und keinen Schlaf finden. Irgendwie kann Rasmus es uns zurzeit nicht recht machen: mal zu wenig, mal zu viel … was denn nun?

Drei Tage lang hatten wir Besuch von Tölpeln. Erst einer, der sich am Bugkorb ausruhte, dann kam ein weiterer hinzu, und am Ende waren es gleich drei, die sich nach einigem, teils etwas unwilligem Beiseiterücken den Platz auf dem Bugkorb teilten. Tagsüber flogen sie ihre Kreise um die Muktuk herum auf der Jagd nach Fliegenden Fischen, die von unserer Bugwelle aufgescheucht wurden, nachts kuschelten sie sich wieder mit den Schnäbeln im Gefieder versteckt auf ihren Schlafplatz und ließen sich – wenn auch eher langsam – nach Westen segeln. Selbst die schlagenden Segel konnten sie nicht vertreiben.

 Einer der drei hat sich schließlich ein besonderes Plätzchen ausgesucht und sich auf der Nock des an Steuerbord ausgebrachten Spinnackerbaums niedergelassen. Dort hatte er tagsüber den besseren Überblick und nachts war er weiter weg vom schlagenden Segel. Das hat den anderen beiden natürlich auch gefallen, und sie versuchten sich dazuzusetzen. Es gab dort aber nur Platz für einen, und der Entdecker verteidigte seinen Revieranspruch mit lautem Geschnatter, wenn die anderen im Anflug waren. Als es dann im Passat mit 6-7 Windstärken zu blasen begann, sind die Tölpel aber doch auf eigene Faust weitergereist.

Ansonsten gibt es nicht viel zu berichten. An unserem Leichtwindsegel (Code Zero) haben wir bei Tagesanbruch entdeckt, dass das Achterliek einen 2,80 Meter langen Riss hatte. Das Segel ist rundherum etwa handbreit verstärkt, und genau am Rand dieser Verstärkung ist das eigentliche Segeltuch dann gerissen. Wir haben jetzt zwar einen Flicken draufgenäht, aber diese „Sollbruchstelle“ ist über der ganzen Länge von Achter- und Unterliek bereits geschwächt, so dass es bald auch an anderer Stelle reißen wird.

Unsere 10 kg Möhren haben kollektiv den Dienst verweigert, sie sind schon nach weniger als zwei Wochen schwarz verschimmelt. Schade, denn die Probecharge, die wir zuvor vom selben Lieferanten gekauft hatten, hat lange gehalten. Noch kann man sie zwar essen, denn der schwarze Belag lässt sich abschälen, aber trotzdem müssen die restlichen Möhren jetzt dicht an dicht in Plastiktüten gedrängt im dunklen kalten Kühlschrank hausen -selber schuld. Die dort schon länger lebenden Radieschen maulen, weil sie nun weniger Platz haben. Von den Gurken, Paprika, Auberginen und Kartoffeln gibt es hingegen nur Gutes zu berichten, sie dürfen sich weiterhin in der Mittelkabine frei bewegen. Die Zitrusfrüchte waren sogar so übermütig, dass sie samt ihrer Kiste von der Koje sprangen und umherkugelnd das Schiff erkundeten. Da haben wir mit unserem nächtlichen Rollen in der Koje wohl ein schlechtes Beispiel gegeben.

Kartenfund

Ich habe mir schon immer gern vorgestellt, was man sähe, wenn die Meeresoberfläche eine Art Glasscheibe wäre, durch die man bis zum Grund hindurchsehen könnte. In Küstennähe könnte man die Untiefen erkennen, sehen, wo man am besten Ankern kann, wunderbar angeln, weil man alle Fische sieht usw.

Ganz spannend wäre es aber auf hoher See, wo man wie im Flugzeug ein paar tausend Meter tief herabsehen und die unterseeische Landschaft bewundern könnte. Hier im Nordpazifik hätte man ein ganz besonderes Schauspiel, denn in der Nähe der Kontinentalplattengrenzen gibt es unzählige sogenannte Tiefseeberge (englisch: seamounts), meist erloschene Vulkankegel, die vom Meeresgrund aus oft tausend oder mehr Metern in die Höhe ragen. Würden sie es bis über die Wasseroberfläche schaffen, würden wir sie Inseln nennen. Aber die Gipfel der Tiefseeberge bleiben eben unter Wasser. Es sind so viele, dass Schätzungen zufolge nur etwa zwei Drittel von ihnen bisher kartografiert sind. Immer mal wieder rammt ein Fahrzeug (zugegebenermaßen meist ein U-Boot) ein bisher unentdecktes Exemplar. Wenn es Glück hat, wird der Tiefseeberg dann nach ihm benannt.

Wie bei Straßennamen in Neubausiedlungen bekommen manchmal einige benachbarte Tiefseeberge zusammengehörige Namen. Nördlich von Hawaii etwa lebt die Gebirgskette der fünfundsechzig „Musicians Seamounts“, alle benannt nach berühmten Komponisten. Von Rossini bis Wagner, von Verdi bis Chopin – jeder hat hier seinen eigenen Berg. Bach bekam natürlich gleich einen ganzen Gebirgszug, und Mendelssohn gleich zwei Tiefseeberge, passend East Mendelssohn und West Mendelssohn genannt.

Aber jetzt zum Anlass dieser Bemerkungen: als ich bei der Routenplanung die Seekarte studierte, fand ich gerade mal hundert Seemeilen südlich von dem Gebiet, das wir gerade durchfahren haben, eine weitere Gruppe. Zu meinem großen Entzücken heißt diese „Mathematicians Seamounts“ und besteht aus neun Tiefseebergen, alle nach verdienten Mathematikern (na gut: auch Physikern) benannt. Da finden sich der Euclid Seamount (Begründer der Arithmetik, Geometrie und Axiomatik), Lagrange Seamount (Gruppen- und Zahlentheorie, Analysis und Himmelsmechanik), Laplace Seamount (Wahrscheinlichkeitsrechnung, Differentialgleichungen), Newton Seamount (Begründer der modernen Physik, Erfinder der Infinitesimalrechnung), Bernoulli Seamount (Strömungsdynamik), Riemann Seamount (Analysis, Differentialgeometrie, Zahlentheorie), Cantor Seamount (Mengenlehre, Erforscher der Unendlichkeit), Lobachevskij Seamount (nichteuklidische Geometrie) und Napier Seamount (Erfinder der Logarithmen).

Während es die „Musician Seamounts“ immerhin ins englischsprachige Wikipedia geschafft haben, sind die Mathematiker-Gebirge dort völlig unbekannt. Viele Teilgebiete der Mathematik und viele verdiente Mathematiker bleiben hier auch unberücksichtigt. Wo bleiben Algebra oder Topologie? Was ist mit Euler, Gauß oder Jacobi? Sind den Namensgebern etwa die Tiefseeberge ausgegangen? Oder gibt es in Wirklichkeit viel mehr Mathematiker unter Wasser, aber aus Gründen der Übersichtlichkeit verzeichnet meine Seekarte (INT 51) nur einige davon – schließlich muss ja noch Platz bleiben für Tiefenangaben und anderen nautischen Kram?

Aber wir stellen uns natürlich schon die Frage: wer ist für die Benennung der Tiefseeberge eigentlich zuständig? Die befinden sich ja üblicherweise außerhalb der Hoheitsgewässer. Gibt es ein „Internationales Komitee zur Benennung der Tiefseeberge“ als Teil der UNO? Wenn ja, wie kann man da Mitglied werden? Oder fallen die Namen in die Zuständigkeit des Deutschen Alpenvereins, Abteilung Tiefsee, Sektion Nordpazifik?

Viele spannende Fragen bleiben also unbeantwortet, bis wir wieder Internet haben. Bis dahin drücken wir die Daumen, keinem unentdeckten Tiefseeberg zu begegnen, der es bis auf drei Meter fünfzig fast zur Insel geschafft hätte. Auch wenn wir ihn dann vielleicht Muktuk Seamount nennen dürften…

Eine Woche auf See

13. Januar 2023 um 15 Uhr UTC, POS 20°15’N 116°26’W

Die erste und die letzte Woche einer Überfahrt sind die schwierigsten. So haben wir es vor vielen Jahren von den Vorbesitzern unserer Muktuk gelernt, zu einer Zeit, als wir uns gar nicht vorstellen konnten, länger als zwei Wochen am Stück unterwegs zu sein. Aber es ist schon etwas dran: in der ersten Woche muss man sich an das Geschaukel und den Wachrhythmus gewöhnen, Reste von Seekrankheit verdauen, schläft noch nicht gut bei den vielen Geräuschen und Bewegungen.

Dazu kommt der krasse Wechsel vom Stress der letzten Tage vor der Abreise mit ihren Einkäufen, Erledigungen, letzten Rechnungen (zweieinhalb Monate kein Internet!), Behördenkram, Ausklarieren… Und auf einmal: nichts mehr. Außer Bordroutine. Drei Mahlzeiten, kochen, spülen, ein paar Segelmanöver und regelmäßige Wartungsarbeiten am Schiff, gelegentliche kleine Reparaturen – kaum ein volles Tagesprogramm. Viel Zeit fürs Nachdenken, Lesen, Podcasts hören, Japanisch lernen. Auch daran muss man sich erst einmal gewöhnen.

Auf die im Schnitt geplanten 100 Seemeilen am Tag sind wir bisher nicht ganz gekommen. Zu oft ist nicht genug Wind für eine zügige Fahrt, aber wir sind ja auch noch nicht auf unserer Zielreisehöhe von 18° Nord, es kann also noch besser werden. Bisher hatten wir sehr kleinräumige Wechsel zwischen kräftigem Wind mit gutem Vorankommen und Flaute mit flappenden Segeln, bei denen die Muktuk von der (natürlich noch gebliebenen Welle) mit Wucht von einer auf die andere Seite geworfen wird. Segeln ohne Wind hat sich aus gutem Grund nicht durchgesetzt. Für die kommenden Tage sieht die Prognose auch nur wenig Wind vor. Wir hoffen auf den Passat mit mehr Konstanz, aber müssen erst einmal dahin kommen.

Die Temperaturen sind angenehm, tagsüber warm für kurze Hosen, nachts kühl genug für Langärmliges. Das Badewasser hat sich von 19 Grad bei Abreise schon auf 22 Grad erwärmt. Wir kommen eben doch langsam nach Süden.

Und warum die letzte Woche einer Überfahrt schwierig sein soll? Da ist man dann ungeduldig und will endlich ankommen. Aber so weit sind wir noch lange nicht.

Zu neuen Ufern

Über ein Jahr waren wir in der Sea of Cortez unterwegs. Zwar mit Unterbrechungen, aber wir haben doch etliche Buchten und Ankerplätze kennen und lieben gelernt, haben unsere Lieblingsecken und die besten Fischgründe gefunden, herrliche Strände und Aussichtsberge entdeckt.

Als aber im Oktober klar wurde, dass Japan nach jahrelanger Corona-Schließung seine Grenzen für Individualtouristen und damit auch für Segler öffnet, begannen wir sofort, Reisepläne zu machen. Jetzt sind wir so weit, uns auf die lange Seereise zu machen.

Wasser, Propan und Dieseltanks sind gefüllt, Säcke von Kartoffeln, Möhren, Zwiebeln, Orangen, Kohl (also allem Haltbaren) sind gestaut, anderes Obst und Gemüse für die ersten Wochen, zig Gläser mit Gulasch, Sugo und Gemüse sind eingemacht, genug Klopapier und Küchenrolle für drei Monate … Die Stauliste ist jedenfalls lang. Wenn wir etwas vergessen haben, gibt es unterwegs keinen Supermarkt. Nur die Fischgeschäfte haben mitten im Pazifik durchgehend geöffnet.

Wir haben vor, von La Paz aus erst einmal auf etwa 18° nördliche Breite zu segeln, und diesem Breitengrad ständig Richtung Westen zu folgen. Erst kurz vor Japan wollen wir rechts abbiegen, um in Okinawa Landfall zu machen. Das ist zwar nicht die kürzeste Strecke, aber dort erwarten wir beständige Passatwinde, angenehme Temperaturen und den Äquatorialstrom, der uns mit einem halben Knoten zusätzlich nach Westen schieben sollte.

Wir werden zwar nahe an Hawaii vorbeikommen, aber wir planen nicht, dort anzuhalten. Zwar wäre es sicher nett, nach ein paar Wochen frisches Obst und Gemüse zu bekommen, doch es würde uns nicht nur Zeit kosten, sondern auch aus dem Wach-Rhythmus bringen, der sich nach der ersten Woche auf See einstellt. Zur Not könnten wir allerdings Hawaii anlaufen, etwa wenn wir einen schwerwiegenden Schaden am Boot hätten, der mit Bordmitteln nicht repariert werden kann.

Wenn aber alles nach Plan läuft, wird die Fahrt nach Japan die längste Seestrecke unserer Reise werden. Über 7.300 Seemeilen (das sind 13.500 km) ohne Landkontakt. Wir kalkulieren auf Langstrecke mit 100 sm/Tag, rechnen also mit einer Reisedauer von gut zehn Wochen. Achtmal werden wir die Bordzeit um eine Stunde vorstellen, und wegen Überschreitung der Datumsgrenze einen Tag im Logbuch auslassen. Viel Schiffsverkehr erwarten wir auf der Strecke nicht, denn die Großschifffahrt folgt natürlich der bedeutend kürzeren Großkreis-Route.

Wenn gerade kein Schiff in der Nähe ist, dürften die uns nächstliegenden Mitmenschen häufig die Astronauten auf der Internationalen Raumstation ISS sein, denn die fliegt alle paar Tage in einer Höhe von 216 Seemeilen über uns hinweg. Mit ihnen teilen wir die Abgeschiedenheit; wie sie sind wir unterwegs auf uns selbst gestellt. Obwohl wir sicher mehr Zwiebeln dabeihaben als die armen Astronauten. Wir haben ja auch mehr Zeit zu kochen.

Wir werden versuchen, über Satelliten-Email etwa jede Woche eine kurze Nachricht auf unseren Blog zu stellen, zwar ohne Bilder, aber mit einem kleinen Lagebericht. Hoffentlich klappt’s mit der Technik. Und wir freuen uns immer über Nachrichten von Freunden, Familie und allen anderen, die unseren Blog lesen. Bitte schreibt uns an iridium(at)muktuk.de, damit wir nicht vergessen, dass es da draußen irgendwo noch eine Welt gibt.

Oaxaca – Paris – Sonthofen

Auf dem Weg ins Stadtzentrum von Oaxaca sehen wir durch eine große Glasfront in eine Druckerei. Auffällig steht dort eine Druckerpresse – jede Menge Walzen, Zahnräder, Kurbeln und Stellschrauben. Das Ganze ein Getüm aus Gusseisen, massiv und antik aussehend. Ein an der Maschine Arbeitender winkt uns herein, als er sieht, wie wir unsere neugierigen Nasen an die Scheibe pressen. Im Nebenraum, der als Galerie der Druckerzeugnisse dient, steht eine zweite Presse, kleiner aber noch älter, mit viel Holz und einer großen Handkurbel.

Auf Spanisch erklärt uns der Mitarbeiter, was es mit der Maschine auf sich hat. Von den 30 Prozent, die wir verstehen, sind wir bereits sehr beeindruckt. Nach einer Weile werden wir aber an Mariana weitergereicht, eine junge Frau, die für Vertrieb und die Galerie zuständig ist, und die spricht hervorragendes Englisch, so dass wir nun mehr Details erfahren können.


Beide Maschinen sind aus Paris, auf der älteren Sternradpresse aus dem 19ten Jahrhundert haben noch berühmte französische Impressionisten ihre Druckwerke produziert. Die größere ist neueren Datums (also aus dem 20. Jahrhundert), aber erst vor zwei Jahren nach Mexiko verschifft worden. Um sie in die Druckerei zu bekommen, musste eigens der Eingang erweitert werden, sonst hätte das tonnenschwere Monstrum nicht hineingefunden.


Spannend wird es, als Mariana uns von der Drucktechnik erzählt – hier werden im Wesentlichen Lithografien hergestellt. Diese Methode hat 1797 der aus Franken stammende Alois Senefelder erfunden, zunächst um damit Musiknoten zu vervielfältigen. Dabei wird auf Kalksteinplatten mit fetthaltiger Tusche oder Kreide die Vorlage seitenverkehrt gezeichnet, dann die Steinplatte befeuchtet. Der Stein saugt das Wasser auf, außer an den zuvor bezeichneten Stellen. Beim nachfolgenden Druckvorgang bleibt die ebenfalls lipophile Druckfarbe nur auf den bezeichneten Stellen haften, nicht aber auf dem nassen Untergrund und wird dann unter hohem Druck auf das Papier übertragen. Gut wird das Ergebnis aber nur mit gutem Papier, das deshalb extra aus Frankreich eingeführt wird.

Marianas Augen leuchten, als sie uns ihre Sammlung von Lithografiesteinen zeigt. Die kommen nämlich aus der weltweit besten Herkunftsstätte: wieder aus Deutschland, nämlich aus Solnhofen im Altmühltal. Solnhofener Plattenkalk entstand im Jura als Sediment von Lagunen (also als das Altmühltal noch am Meer lag) und wurde schon im 2. Jahrhundert von den Römern als Bodenfliesen verwendet. Aber nach Senefelders Erfindung wurde der Abbau der Lithografiesteine das Hauptgeschäftsfeld. Mittlerweile sind die Vorkommen der Steinplatten mit Lithografie-Qualität nahezu erschöpft. Die Steine, die die Druckerei in Oaxaca besitzt, sind daher auch ihr ganzer Stolz und werden als die Kostbarkeiten behandelt, die sie sind. Nach jeder Druckserie müssen sie für die Aufnahme eines neuen Motivs abgeschliffen werden und werden so ein paar Zehntelmillimeter dünner. Eine Stärke von mindestens 10-12 cm müssen sie aber behalten, um unter dem hohen Druck der Presse nicht zu zerbrechen.



Wir sind völlig fasziniert von den Erklärungen, und dass wir ausgerechnet im fernen Oaxaca so viel neues über fränkische Erfinder und Steinplatten aus dem Altmühltal lernen. Mariana zeigt uns Druckerzeugnisse der vielen lokalen Künstler, die in ihrer Werkstatt ihre Drucke hergestellt haben. In den nächsten Tagen tauchen wir noch etliche Male in der Druckerei auf. Mal haben wir beim Recherchieren Interessantes über Solnhofen oder die Steine herausgefunden (z.B. das Lithografiesteinarchiv im Münchner Landesamt für Digitalisierung, Breitband und Vermessung oder ein Beitrag aus Bayern 3 über den Solnhofener Plattenkalk), was wir unbedingt Mariana zeigen müssen, denn diese plant eine Reise nach Deutschland. Mal zieht es uns zurück an die Schublade mit den Druckerzeugnissen, aus der wir eine Lithografie eines lokalen Künstlers so liebgewonnen haben, dass wir sie am Ende kaufen.

Hilfsruder Autopsie

Es ist schon viele Monate her. Wir waren dabei, eine Bucht in der Nähe von La Paz zu verlassen, ich legte hart Ruder, um eine enge Linkskurve zu fahren, das Boot kam aber kaum herum. Bis ich das merkte, waren wir schon auf Grund gelaufen, denn so viel Platz war in der Bucht eben nicht. Auslöser des Problems war das Hilfsruder der Windsteueranlage. Muktuk hat ja zwei Ruderblätter, aber nur einen Propeller in der Mitte, hinter dem sich also nicht, wie sonst üblich, ein Ruderblatt befindet. Ohne Ruderblatt, das direkt vom Schraubenwasser angeströmt wird, kann man aber nicht auf engem Raum manövrieren, da bei langsamer Fahrt kaum Ruderwirkung vorhanden ist. Die Lösung auf der Muktuk: das Hilfsruder der Windsteueranlage ist, zumindest wenn wir unter Maschine fahren, über ein Gestänge mit den Hauptruderblättern verbunden, so dass wir nun doch ein – wenn auch kleineres – Ruderblatt haben, das vom Propeller angeströmt wird.

Diese Konstruktion war in der Bucht ausgefallen. Die Ursache war schnell gefunden: der Schaft des Hilfsruders war nicht mehr mit dem Ruderblatt verbunden. Zwar drehte sich über das verbindende Gestänge der Schaft des Hilfsruders, aber eben nicht das Ruderblatt selbst.

In der nächsten Bucht haben wir das Hilfsruder ausgebaut, und den Schaft aus dem Ruderblatt herausgezogen. Er war knapp innerhalb des Ruderblatts gebrochen. Zum Glück war noch ein innerer Stahlkern übrig, der noch fest mit dem Ruderblatt verbunden war. Durch Verschrauben des gebrochenen Edelstahl-Rohrs des äußeren Schaftes mit dem inneren Stahlkern konnten wir das Ganze provisorisch reparieren und wieder einbauen. Aus der nächsten Bucht kamen wir also wieder ohne Grundberührung heraus.

Aber beim nächsten Werftaufenthalt stand eine ordentliche Reparatur des Hilfsruders an. Ich kontaktierte Peter Förthmann, den Hersteller unserer Windsteueranlage, und er gab mir ausführliche Ratschläge und eine detaillierte Anleitung, wie die Reparatur vonstattengehen sollte.

Als erstes befreite ich das Ruderblatt von den über Jahrzehnte aufgebauten Schichten Antifouling. Dann kam der gruselige Schritt, das Ruderblatt rundherum mit der Flex aufzusägen, bis ich die beiden Hälften auseinanderklappen, die Reste des alten PU-Schaums entfernen und den gebrochenen Schaft herausnehmen konnte. Der war nicht nur an einer Stelle gebrochen, sondern hatte auch noch an einer weiteren Stelle bereits Haarrisse. Zudem war er etwas verbogen. Der Schaft ging zum Schweißer, der alles wieder hergerichtet hat.


Für die weiteren Schritte brauchte ich einiges an Material, das alles in Puerto Peñasco nicht zu bekommen war. Erst nach einer eintägigen Einkaufsreise über die US-Grenze nach Phoenix, Arizona, konnte das Projekt fortgesetzt werden. Der Schaft wurde mit Epoxy-Spachtel erst in eine Halbschale des Ruderblatts eingeklebt. Dann wurde die andere Hälfte aufgelegt und ebenfalls mit Epoxy-Spachtel verbunden. Entlang der aufgesägten Trennung wurde das Ruderblatt mit in Epoxidharz getränkten Glasfasermatten verbunden und verstärkt. Nach Ab- und Glattschleifen kamen noch zwei Schichten Gelcoat drauf, um eine glatte Oberfläche und einen zusätzlichen Schutz zu erhalten.



Nun stand die nächste heikle Operation an: der Hohlraum im Inneren musste mit geschlossenporigem PU-Schaum wieder ausgeschäumt werden, damit sich das Ruderblatt im Betrieb nicht mit Wasser füllt. Hierzu habe ich das Ruderblatt senkrecht gestellt, mit etlichen Schraubzwingen und Keilen in Form gehalten, oben ein Loch gebohrt und mit einem Trichter die angerührte PU-Mischung eingefüllt. Das muss sehr schnell gehen, denn 60 Sekunden nach dem Zusammenschütten der beiden Komponenten fängt das Zeug an zu schäumen. Das sind also 15 Sekunden zum Vermischen und 45 Sekunden zum Einfüllen. Und man darf nicht zu viel nehmen, sonst zerbirst das Ruderblatt unter dem Druck des sich aufblähenden Schaums. Ich habe das in drei Etappen gemacht, bis nach der letzten Runde gerade mal ein kleines bisschen Schaum aus der Einfüll-Öffnung herauskam.

Nun musste nur noch das Loch verschlossen, das Schraubenloch von der provisorischen Erstreparatur gefüllt und das Ruderblatt mit drei Lagen Antifouling gestrichen werden – fertig zum Einbau.

Ich war jedenfalls ganz schön froh, als das Ding wieder an einem Stück und an Ort und Stelle war.

 

Deutsche Segelschiffe in Santa Rosalia

Wir haben in Santa Rosalia einen kleinen, verschlafenen Hafen vorgefunden, in dem so wenig los war, dass wir sogar mitten im Hafenbecken ankern konnten. Doch das war Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts völlig anders.

Zur Verhüttung des Kupfererzes wurden große Mengen an Koks benötigt, außerdem Kohle für die Dampfmaschinen und die Eisenbahn. Beides war in Mexiko Mangelware und wurde aus Europa herangeschafft. Jahr für Jahr machten sich zwanzig bis dreißig Großsegler, teils unter deutscher, teils unter britischer Flagge, auf große Fahrt ins ferne Mexiko. Der Panama-Kanal war noch nicht fertiggestellt, und so dauerte die Reise rund Kap Horn mindestens vier, häufig auch fünf oder sechs Monate.

[Das Vollschiff FLOTIBEK war schon 1895 in Santa Rosalia und machte 1903 eine Reise von Hamburg nach Santa Rosalia in llB Tagen. (Foto: National Maritime Museum, Greenwich)]

[Ausreise der Viermastbark SCHÜRBEK 7913 nach Santa Rosalia und Portland/Or.]

Koks und Kohle stammten überwiegend aus dem Königreich Sachsen, wurden per Binnenschiff nach Hamburg transportiert und dort in die großen Segelschiffe, meist Viermastbarken von 2.000 bis 3.000 Bruttoregistertonnen, verladen. Diese Großsegler waren die letzte Generation ihrer Art, denn die Dampfschifffahrt machte den Seglern bereits viele Marktanteile streitig. Auf der Strecke nach Mexiko und zur amerikanischen Westküste war das Dampfschiff allerdings noch unrentabel. Grund waren die hohen Treibstoffkosten: Bunkerkohle, die in Südamerika einfach zu teuer war.

[Die britische Viermastbark ANDORINHA lädt im Juli 1906 Preßkohle und Koks aus Waggons und einem Elbkahn (Foto: Slg. F. W. Arnemann)]

So kam den deutschen Reedern die Koksfahrt nach Santa Rosalia wirtschaftlich sehr gelegen. Auf der Rückreise hatten sie die Auswahl zwischen Getreide und Holz von der nordamerikanischen Westküste, Salpeter aus Chile (Rohstoff für Dünger und Schießpulver), oder eben auch Kupfer aus Santa Rosalia.

Die Kupferbarren waren allerdings so schwer, dass die Segler ein ganz ungewohntes Problem bekamen. Normalerweise möchte man ja für die Stabilität des Schiffes viel Ballast möglichst tief im Rumpf. Mit einer Ladung Kupfer lag der Schwerpunkt aber so tief, dass das Schiff zu steif wurde und dem Winddruck nicht mehr ausreichend ausweichen konnte – in den Böen brach die Takelage. Um das Problem zu lösen, wurde der Laderaum durch Holzgerüste künstlich angehoben und das Kupfer etwas höher gestaut.

Aber es gab auch andere Gefahren. So ruhig der Golf von Kalifornien auch im Normalfall sein mag, bei den Sommerstürmen konnte der Anker slippen und das Schiff wurde auf die Felsen gesetzt. Oder der Kapitän geriet bei auflandigem Wind auf Legerwall und konnte sich nicht freisegeln. Und saß so ein Großsegler erst einmal auf Grund, war das Schiff meist verloren, denn in Mexiko gab es keine Schlepper, die stark genug waren, um es wieder freischleppen zu können. Doch der Profit dieser Reisen muss wohl hoch genug gewesen sein, um die Risiken aufzuwiegen.

Die Besatzungen der Kokssegler teilten den Enthusiasmus ihrer Reeder allerdings eher nicht. Die lange Reise über 15.000 sm, die eintönige Verpflegung für vier bis sechs Monate, ungemütliche und gefährliche Reiseabschnitte in Nordsee, Ärmelkanal und rund Kap Horn, die nicht selten für Verletzungen und Todesfälle sorgten. Und war man erst einmal im Golf von Kalifornien, das Ziel nur noch 350 sm entfernt, kämpften sie oft wochenlang bei Windstille oder leichtem Gegenwind für eine Strecke, die bei günstigem Wind zwei Tage gedauert hätte. Und das bei tropischer Hitze, knappen Wasservorräten und häufigen Fieberkrankheiten. Kein Wunder, dass so mancher Seemann am Ziel desertierte, obwohl die Wüstengegend auch nicht gerade einladend war.

Der Ausbruch des ersten Weltkriegs beendete die deutsche Schifffahrt nach Übersee und damit auch die deutsche Koksschifffahrt von Hamburg nach Santa Rosalia. Zwölf deutsche Segelschiffe befanden sich zu diesem Zeitpunkt in Santa Rosalia oder auf dem Weg dorthin. Manche trafen mit völlig ahnungslosen Besatzungen ein und erfuhren von den Franzosen, dass ihre Länder sich im Krieg befinden. Mexiko war nicht am Krieg beteiligt, und so konnte sich die Besatzung frei an Land bewegen, aber die Schiffe konnten die neutralen Gewässer des Golfs von Kalifornien nicht verlassen. Kurz vor Kriegsende befahl die deutsche Regierung den Kapitänen die Zerstörung der Schiffe, der Befehl traf aber wohl nicht vor der Kapitulation ein und wurde daher nicht ausgeführt. Im Versailler Vertrag fielen die Schiffe als Reparationsleistung an Frankreich, Italien und Großbritannien. In diesen Ländern war aber kein Reeder bereit, die über fünf Jahre nicht instandgesetzten Schiffe zu übernehmen, so dass die meisten an eine amerikanische Reederei verkauft und bald abgetakelt wurden.

Nach dem ersten Weltkrieg war die Zeit der Großsegler endgültig vorbei. Der Panamakanal war 1914 eröffnet worden, die Dampfschifffahrt hatte auch auf der Koksroute nach Mexiko gewonnen. Schade eigentlich – wir hätten gerne unseren Liegeplatz im Hafen von Santa Rosalia mit ein paar deutschen Viermastbarken geteilt und Seemannsgarn ausgetauscht.

Wer mehr über diese spannende Zeit erfahren will – die meisten Informationen stammen aus dieser Quelle: Burmester, H. (1987). Segelschiffsreisen nach Santa Rosalia. Deutsches Schiffahrtsarchiv, 10, 37-76. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-55876-6

Kupfer in Santa Rosalia

Im Jahre 1868 entdeckte José Rosas Villavicencio, ein mexikanischer Viehzüchter, in der Nähe des heutigen Städtchens Santa Rosalia ein paar merkwürdig aussehende Gesteinsbrocken. Er zeigte sie dem Kapitän eines in Guaymas vor Anker liegenden Schiffes, der zwei Deutsche dazu holte, um die Steine zu begutachten. Diese boten dem Bauern Geld, damit er ihnen die Fundstätte dieser Steine zeigte. Es handelte sich nämlich um Erz mit einem recht ansehnlichen Kupfergehalt von 20 bis 25%. In den folgenden Jahren wurde das Kupfererz zunächst durch ein mexikanisch-deutsches Unternehmen in geringem Umfang und nur im Tagebau gefördert, anscheinend aber mangelte es dieser Firma an fast allem: Kapital, Ausrüstung und Fachkenntnis. Ohne Hüttenwerk war es auch unrentabel, das Erz zu verschiffen, und als dann noch der fallende Kupferpreis dazukam, ging das Unternehmen 1879 pleite.


Das inzwischen nach Europa (hauptsächlich Schweden und England) exportierte Kupfererz weckte aber das Interesse der Rothschild-Familie. Zu dieser Zeit war der Weltmarkt für Kupfer von einem einzigen Hersteller bzw. einer einzigen Mine dominiert: Rio Tinto in Spanien. Rothschild beauftragte zwei französische Ingenieure damit, die Erzvorkommen in der Baja California zu untersuchen, und ausgestattet mit einem Startkapital von 12 Millionen Franc wurde die „Compania del Boleo“ als Aktiengesellschaft gegründet, die 1885 die Konzession zum Kupferabbau erhielt.

Die mexikanische Regierung versprach sich davon die Erschließung dieses bisher unbesiedelten Landstrichs und gewährte der neuen Firma Steuerfreiheit für 70 Jahre. Neben der Infrastruktur für den Erzabbau und die Kupferhütte errichtete „El Boleo“ auch Unterkünfte für die Arbeiter und französischen Ingenieure – der Ort Santa Rosalia entstand, und eine Landungsbrücke für Schiffe wurde erbaut, die Keimzelle des heutigen Hafens. 1892 hatte Santa Rosalia bereits 600 Einwohner, zwanzig Jahre später schon über 6000. Selbst eine Kirche wurde herangeschafft, aus Einzelteilen zusammengesetzt und von niemand geringerem als Gustave Eiffel entworfen. Eben genau das Richtige für französische Ingenieure!

Ende des 19. Jahrhunderts produzierte Santa Rosalia bereits 11.000 Tonnen Kupfer pro Jahr, die Hälfte der mexikanischen Produktion. Die Abbaubedingungen waren dennoch primitiv. Maschinen oder Sprengstoff kamen nicht zum Einsatz, stattdessen Handbohrer und Spitzhacke. Nur die einheimischen Yaquis aus Sonora waren der Hitze gewachsen und wurden – nur mit Lendenschurz bekleidet – unter Tage geschickt, viele erkrankten und starben aufgrund der extremen Arbeitsbedingungen.


Das Hüttenwerk war dagegen seit seiner Erbauung stets „state of the art“. Anfangs wurde das Erz nur zerkleinert und in Hochöfen verhüttet, bald kamen aber auch Konverter dazu, bei denen in das noch flüssige Rohkupfer Luft eingeblasen und die Unreinheiten damit verbrannt wurden. Am Ende blieb 98% reines Kupfer übrig, das in Barren gegossen wurde. Der als „Abfallprodukt“ entstehende Hochdruck-Dampf trieb Maschinen sowie Generatoren zur Stromerzeugung an. Die im Hochofen anfallende Schlacke wurde über Förderbänder zu einem Verladeturm am Hafen transportiert, auf Schiffe verladen und ins Meer geschüttet. Noch heute ist das Hafenbecken durch Wellenbrecher aus Schlacke geschützt.

Als nach siebzig Jahren die Steuerfreiheit von El Boleo auslief, machte die Firma 1954 dicht, die Minen wurden in Folge von mexikanischen, kanadischen und zuletzt koreanischen Betreibern weiter genutzt. Auch die Kupferhütte blieb noch bis in die 1970er Jahre in Betrieb. Das Gebäude ist mittlerweile recht verfallen, und in Deutschland wäre es aus Sicherheitsgründen sicher gesperrt und mit allerlei Zäunen umgeben. Hier in Mexiko sieht man das nicht so eng. Wir können auf dem ungesicherten Gelände herumgehen und die riesigen Anlagen und Maschinen bestaunen. Man muss eben selber zusehen, dass man nirgends einbricht und dass einem nichts auf den Kopf fällt.


Peppino, ein mittlerweile 85-jähriger ehemaliger Angestellter von El Boleo, führt uns in der Maschinenhalle herum, erklärt uns den Verhüttungsprozess und beantwortet geduldig unsere Fragen. Am Ende der Führung steigt er wieder in sein Taxi – denn aktuell verdient er mit Taxifahren sein Geld. Wir laufen noch lange in der Ruine der Anlage herum, schießen unzählige Fotos und bewundern die massiven, verrosteten Maschinenteile. Das Hüttenwerk flößt uns noch immer Respekt ein, Respekt vor der Ingenieursleistung, aber auch vor ihrer schieren Dimension. Ein befreundeter Segler, der mit uns zusammen die Anlage besichtigt, findet die passende Beschreibung: wie ein großes, mächtiges totes Tier.