Neujahr in Etajima

29. Dezember 2023 – 09. Januar 2024

Für die letzten Tage des alten Jahres finden wir einen Ankerplatz in einer geschützten Bucht der Insel Etajima, zwischen dem Fähranleger und einer kleinen Felsinsel mit einem roten Schrein ist gerade genug Platz für uns. Ein paar Schritte weiter an Land befindet sich ein schöner Onsen mit Sauna und Außenbecken.

Im Onsen trifft Andreas auf Keisuke und Yasu, beide Ende Zwanzig, mit denen wir uns später im Foyer noch etwas unterhalten. Wir laden die beiden ein, uns am nächsten Tag auf der Muktuk zu besuchen und verbringen mit ihnen einen fröhlichen Nachmittag. Keisuke hat ein Jahr lang in Australien und ein weiteres Jahr in Kanada gearbeitet. Und auch Yasu spricht Englisch, so dass die Kommunikation wunderbar klappt.
Keisuke reist zurzeit mit dem Auto durch Japan, er kann online arbeiten und ist ortsunabhängig. Auf Etajima ist er schon seit einer ganzen Weile, hat Freunde gefunden und hilft einem von ihnen bei der Renovierung eines Hauses. Im Lauf der nächsten Tage macht er uns mit vielen seiner Freunde hier auf der Insel bekannt.

Um Neujahr herum gibt es in Japan etliche Feiertage, viele Firmen machen in dieser Zeit Betriebsurlaub und so nehmen sich viele Menschen eine ganze Woche frei, um zu ihren Familien zu fahren. Silvester ist ein stilles Fest in Japan, Feuerwerk und Böller gibt es keine. Das öffentliche Leben kommt fast gänzlich zum Stillstand – etwa vergleichbar mit Heilig Abend und den Weihnachtsfeiertagen in Deutschland.

Am letzten Abend im Jahr wird eine Suppe mit langen Soba-Nudeln gekocht. Die Nudeln stehen stellvertretend für ein langes Leben und ein gutes neues Jahr. In den buddhistischen Tempeln gibt es verschiedenen Zeremonien, so werden um Mitternacht 108 Glockenschläge geschlagen: 107 im alten Jahr und einer im neuen Jahr. Am Neujahrstag wiederum sind die Shinto-Schreine voll mit Besucherinnen und Besuchern, die für Glück und Segen im neuen Jahr beten.

Da am Silvesterabend alle Restaurants geschlossen sind, bereiten wir die traditionelle Suppe mit den Soba-Nudeln bei uns an Bord zu. Wir schlürfen gewissenhaft und wünschen uns dabei schon mal Gesundheit fürs neue Jahr.

Gegen 23 Uhr machen wir uns auf den Weg zu einem buddhistischen Tempel, den Keisuke uns empfohlen hat. Dort angekommen, werden wir von einem älteren Paar, offensichtlich im Kuratorium des Tempels tätig, freudig erstaunt begrüßt. Sie geben uns zwei schön bedruckte Zettel mit einer Nummer drauf, die wir unbedingt beachten sollten.

Sie zeigen uns, welche Verrichtungen wichtig sind: so spenden wir einige 100-Yen-Münzen, dürfen Räucherkerzen anzünden und uns zu einem kurzen Gebet vor dem Altar verneigen. Danach bitten sie uns, ein Foto mit dem Priester des Tempels machen zu dürfen.

Etwa 20 Minuten vor Mitternacht ist der Andachtsraum des Tempels fast zur Hälfte gefüllt, wir sitzen alle auf niedrigen Stühlen vor dem breiten Altarraum. Der Priester beginnt mit einem kurzen Gottesdienst. Er betet, singt mit der Gemeinde zwei Lieder und hält eine kurze Predigt. Wir verstehen leider gar nichts davon, aber seiner Miene nach zu urteilen und den Reaktionen der anderen Zuhörer, war es eine Ansprache voller Zuversicht und Freude. Danach gehen wir alle raus in den großen Hof des Tempels.


Gesangbuch

In einer Ecke des Hofes befindet sich in einem stabilen Holzgerüst eine riesige Glocke. Der Priester klettert hoch zur Glocke, während sich die Gemeinde in einer ordentlichen Reihe vor dem Podest aufstellt, gemäß den Nummern auf den anfangs erhaltenen Zetteln. Alles ist wohl organisiert.
In diesem Tempel gibt es eine andere Tradition als die, von der wir im Internet gelesen haben. Der Priester schaut gebannt auf sein Mobiltelefon und Punkt Mitternacht schlägt er als erster die Glocke. Dafür schwingt er ein starkes rundes Holzstück, das an einer Kette befestigt ist, mit viel Schwung auf die Glocke zu. Danach verbeugt er sich kurz zu einem Gebet.

Nach ihm ist die Gemeinde dran. Jeder und jede darf zur Glocke hoch steigen und einen Ton schlagen, kurz innehalten und sich verneigen, so auch wir. Ein erhebender Moment für uns, Teil dieser Zeremonie sein zu dürfen.

Es herrscht eine fröhlich-feierliche Stimmung im Hof. Die Leute fotografieren sich gegenseitig, auch die Kinder dürfen die Glocke schlagen, die ganz Kleinen werden in die Luft gehoben, um den Klöppel zu erreichen.

Im Hof ist ein Stand aufgebaut, wo alle einen Becher mit heißer süßer Amazake bekommen, einem auf Basis von Reis fermentierten alkoholfreien Getränk. Etwas weiter weg brennt in einer großen Blechtrommel ein Holzfeuer, an dem man sich anschließend wärmen kann.

Wir freuen uns, wie selbstverständlich wir in die Zeremonie mit einbezogen werden und wie freundlich uns die Leute alle anschauen. Manche fragen ganz neugierig, woher wir kommen und wollen gerne wissen, was uns bewogen hat, um Mitternacht in den Tempel zu kommen. Wir versuchen, so gut es geht, mit unserem bisschen Japanisch diese Fragen zu beantworten.

Am Neujahrstag holt uns Keisuke gegen Mittag mit seinem Auto ab und wir fahren zusammen zu einem Shinto-Schrein. Erst müssen wir – wie bei fast allen großen Schreinen – eine steile Treppe hoch steigen.

Im Vorraum des Schreines stellen wir uns in die Warteschlange, während Keisuke erklärt, was wir zu tun haben: verbeugen, beten, zwei Mal in die Hände klatschen, noch einmal verbeugen, während die beiden Priester ihre Gebetsfahnen über uns schwenken. Danach bekommen wir aus einem flachen Schälchen einen Schluck Sake, den zwei junge Frauen den Besuchern anbieten.

Auf der linken Seite des Raumes sind Tische aufgebaut, da kann man Glücksbringer kaufen und aus einem Automaten Zettel mit Prophezeiungen für das neue Jahr ziehen. Wir gehen zurück in den Hof, wo Keisuke unsere Zettel anschaut und sie für uns übersetzt. Wir haben Glück, es sind lauter gute Dinge, die uns für das neue Jahr vorhergesagt werden.

Wenn man einen Zettel bekommen hat, der nicht so gut klingt, kann man ihn an einem der Blumengestecke anbinden und für bessere Vorhersagen beten. Während der Gebete sind alle sehr gefasst und feierlich, davor und danach herrscht eine zwanglos geschäftige Stimmung. Die Familien fotografieren sich gegenseitig vor dem Eingang des Tempels oder mit den Blumen im Hintergrund und auch wir machen viele Fotos.

Danach nimmt Keisuke uns zu seinen Freunden mit. Eine größere Gruppe hat sich bei Haru und Yasu in ihrem „Wearhouse“ eingefunden, eine Art Café, Second-Hand-Laden und Veranstaltungsort in einem. Wir werden herzlich begrüßt und finden uns nach einer ersten Vorstellungsrunde mit einem Glas Wein in der Hand in ernsthafte Gespräche verwickelt. Wie wir nach und nach feststellen, haben die meisten von ihnen beschlossen, sich nicht oder nicht mehr dem Erfolgsdruck und den oft unmenschlichen Bedingungen eines Angestelltenlebens (company slave) in der Großstadt auszusetzen. Sie versuchen, eine bessere Balance zwischen Arbeiten und Leben zu finden. Es ist eine Gruppe mit durchweg interessanten Menschen, die alle eine spannende Geschichte zu erzählen haben.

Was für ein Glück, Oshogatsu (Neujahrsfest mit Familie und Freunden) in diesem Kreis feiern zu dürfen.

Der Nachmittag ist viel zu schnell vorbei, darum verabreden wir uns für die nächsten Tage, an denen sie alle noch frei haben.

Zuerst kommen Haru, Yosuke, Asuka und Keisuke zu uns an Bord und wir sitzen in kleiner Runde bis spät nachts zusammen, essen und erzählen.

Zwei Tage später finden sich noch mehr junge Menschen ein, Freunde von Freunden, die alle Zeit haben und unbedingt einmal so ein Segelboot auf Langfahrt anschauen wollen. Da wir vor Anker liegen, klingelt ständig ein Mobiltelefon und Andreas macht sich auf den Weg zum Steg, um mit dem Dinghi die nächsten Besucher abzuholen. So sitzen wir schließlich zu elft in der Messe, am Tisch und auf der Treppe, darunter ein kleiner Junge von gerade mal 18 Monaten. Alle haben Unmengen an leckerem Essen mitgebracht und Kartons voller Getränke, auf dem großen Tisch ist kaum noch Platz für Teller. Wir steuern eine Lasagne bei und staunen, wie kunstvoll sie mit Stäbchen verzehrt werden kann.

Alle reden durcheinander, erzählen, machen Witze, lachen. Später spielt der Vater des kleinen Jungen auf der mitgebrachten Handpan, Andreas holt unsere Gitarre und zwei weitere Besucher spielen darauf ein paar Stücke. Wir sind begeistert und glücklich, so viele neue Menschen auf einmal kennen zu lernen.

Und wir hoffen, dass wir sie vielleicht auch später noch ab und zu treffen werden. Denn sie haben uns einen Floh ins Ohr gesetzt: in den ländlicheren Gegenden von Japan stehen viele Häuser leer und sind für sehr wenig Geld zu haben. Der Bürgermeister von Etajima sei sehr offen für alle, die sich hier niederlassen möchten, er unterstützt die neu Zugezogenen so gut es geht. Und warum wir nicht auch hierher ziehen wollten, meinen sie. Nun haben wir für das neue Jahr viel zum Nachdenken auf den Weg bekommen.

Diese Tage auf Etajima sind wirklich etwas ganz Besonderes!

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